Wichtig für die Region

Ich sitze im ICE von München nach Hannover, und zwar in der ersten Klasse, um den Leberwurstbroten in der zweiten zu entgehen. Mir gegenüber sitzt ein stämmiger Herr in einem blauen Hemd mit weißem Kragen - etwas, das ich ungefähr so sehr schätze wie mit dem Gesicht in ein seit zwei Wochen nicht gereinigtes Katzenklo zu fallen. Der Herr blättert im Handelsblatt, ich halte ihm aus reiner Bosheit eine taz entgegen und lese einen Artikel über die Arbeit illegaler nordafrikanischer Immigranten bei der Wassermelonen-Ernte in Spanien.

Der Herr mir gegenüber schwitzt. Vielleicht beschäftigt er Schwarzarbeiter. Unter erstaunlich großer Geräuschentwicklung faltet er seine zerlesene Wirtschaftsgazette zusammen und starrt ein paar Sekunden auf die draußen vorbeiziehende Landschaft. Ich weiß, was mir gleich bevorsteht: eines dieser »Fahren-Sie-auch-bis-Hannover?«-Gespräche, die man im Zug viel zu häufig führen muss.

»Fahren Sie auch bis Hannover?«

Tatsächlich, er hat es gefragt. Und das auch noch in breitestem Münchener Dialekt. Was jetzt? Am liebsten würde ich ihm sagen, dass ich erst mit ihm rede, wenn er ein anderes Hemd anzieht und Hochdeutsch redet, aber so was traut man sich ja doch nicht. Stattdessen sage ich nur »Ja« und vertiefe mich wieder demonstrativ in das Zentralorgan seines Klassenfeindes.

»Kommen Sie aus München?«

Verdammt, der lässt nicht locker.

»Jetzt gerade ja.«

»Aber Sie sind nicht von da, das hört man gleich.«

Donnerwetter, ich reise mit Einstein! »Nein, ich bin nicht von da«, sage ich und denke: Ich war noch nie von da und werde nie von da sein.

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«

Innerlich seufze ich und frage mich, wieso man solche Gespräche nie von attraktiven Frauen Ende zwanzig aufgedrängt bekommt.

»Ich komme aus Bochum«, sage ich.

»Ach, aus dem Ruhrgebiet?« Da ist er wieder, dieser Blick! Diese Mischung aus Mitleid und Überlegenheit, wenn man jemandem aus Restdeutschland gesteht, dass man aus dem Ruhrgebiet kommt. Ein Blick, der zu sagen scheint: »Ach, das tut uns aber leid, dass du nicht mit uns schwimmen gehen kannst, weil du einen künstlichen Darmausgang hast!«

Die taz lege ich jetzt mal zur Seite und signalisiere Kommunikationsbereitschaft, denn ich will sehen, wie der dicke Herr mit dieser Antwort klarkommt.

»Ich muss Ihnen sagen«, bayert er mich an, »ich war erst kürzlich in Mülheim, und ich habe mich gewundert, wie viel Grün es doch im Ruhrgebiet gibt.«

»Ja, ja, man nennt es mittlerweile Bad Mülheim«, aber darüber kann der Herr nicht lachen, also sage ich: »Das war ein Scherz«, und dann lacht er doch noch.

Es ist immer das Gleiche: In Bochum hat die letzte Zeche Anfang der Siebziger dichtgemacht, aber mancherorts denkt man immer noch, man könne nicht mit einem weißen Hemd durch unsere Innenstadt gehen, ohne sich hinterher den Ruß aus dem Kragen wischen zu müssen. Und wie blöd sie gucken, wenn sie feststellen, dass sie uns ein Wort wie »Baum« nicht mit Piktogramm erklären müssen!

Wenn meine Schwiegermutter aus einem kleinen Kaff in der Nähe von Erlangen zu uns nach Bochum kommt, hat sie meistens drei bis vier Kisten voller Lebensmittel im Kofferraum, und ich hoffe dann immer, das entspringt nur ihrer angeborenen Großherzigkeit und nicht der Sorge, bei uns würde es so exotische Waren wie Bohnenkaffee und Südfrüchte nicht geben.

Oder aber die seit Jahrzehnten immer weiter abnehmende Allgemeinbildung schlägt zu und wirft Ruhrgebiet und Rheinland wieder mal in einen gemeinsamen norddeutschen Topf. »Ach, Ihre Lesung in Köln war so ein Erfolg? Naja, Heimspiel, was?« Irrtum, nach Köln gehe ich nur, wenn ich Geld dafür bekomme.

»Also, ich muss Ihnen sagen«, kommt es aus dem qualligen Gesicht oberhalb des weißen Kragens, »ich bin ja sehr gerne im Ruhrgebiet.« Aha, diese Schiene! Nach dem Motto: Ich habe nichts gegen Ausländer, ich kaufe sogar mein Obst bei denen. Das kann ich ja noch weniger leiden, diese pittoreske Idealisierung! Jetzt kommt gleich was von der Direktheit der Menschen im Pott, wie erdig wir doch alle seien und wie toll diese raue Herzlichkeit, und wie beeindruckend wir den Strukturwandel verarbeitet hätten, und was sonst noch so gern an wohlmeinender Malocher-Romantik dahergefaselt wird, und dass bei uns noch Fußball mit Herz gespielt werde und wie wichtig das auch sei, »für die ganze Region«.

Machen wir uns doch nichts vor, verkniffene, engstirnige Fratzen gibt es auch bei uns, und die Menschen werden nicht besser, nur weil sich der Lichtschein flüssigen Stahls so malerisch in ihren Gesichtern bricht! Soll er sich nur bei mir einschleimen, ich werde ihm schon erzählen, was er mich kann mit seiner gütigen Arroganz!

Der dicke Mann holt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischt sich damit über die Stirn. »Aber eine Frage hätte ich da mal.«

»Und zwar?« Komm schon, denke ich, und nehme innerlich die Fäuste hoch gegen die zu erwartende Umarmung.

»Wieso sind die Leute bei Ihnen immer so unhöflich? Und warum laufen bei Ihnen die Männer auch im Winter immer noch im Unterhemd über Straße? Können Sie nicht mal Benehmen lernen? Stahl und Kohle, die Zeiten sind doch wohl vorbei, das verschlingt doch nur noch Subventionen!«

Unverschämtheit! Was erlaubt der sich? Soll erst mal richtig Deutsch lernen, anstatt mich mit seinem Weißwurst-Genuschel zu belästigen! Wenn hier einer das Ruhrgebiet beleidigen darf, dann doch wohl ich! Wo kommen wir denn da hin, wenn das auch noch die Auswärtigen übernehmen! Unsere Kohle hat euch nach 45 wieder nach oben gebracht und heute macht ihr Zicken wegen dem Länderfinanzausgleich! Ein paar Sekunden lang komme ich mir vor, als sei ich selbst noch in den Fünfzigern auf Prosper Haniel eingefahren und hätte das schwarze Gold mit meinen eigenen Händen aus dem Schoß der Erde gerissen. Und überhaupt ist das jetzt hier Frankfurt, und da steige ich jetzt aus, was will ich denn in Hannover, ist doch genauso ein Drecksnest wie München oder alle anderen! Südlich von Hattingen ist für mich Tirol und nördlich von Recklinghausen Dänemark, östlich von Unna beginnt für mich Sibirien und westlich von Duisburg ist die Welt zu Ende und da fallen alle ins Urmeer!

Was? Wie ich auf drei Seiten zweimal meine Meinung ändern kann? Das geht Sie gar nichts an. Höflichkeit ist was für Leute, die nicht richtig arbeiten können!

 

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